Nachgedacht

Der Streit um die Spielführerbinde

»No Discrimination« for »One Love« !

Die am 21. November bekannt gewordene Weigerung der FIFA die »One Love«-Kapitänsbinde, die Manuel Neuer sowie einige weitere Kapitäne europäischer Nationalmannschaften während der WM-Spiele 2022 in Katar tragen wollten, zu akzeptieren und stattdessen allen teilnehmenden Mannschaften das Tragen der „No Discrimination“-Spielführerbinde vorzuschreiben, hat hohe Wellen geschlagen und ist größtenteils auf Unverständnis gestoßen. Aufgrund zahlreicher Anfragen, die mich zu diesem Thema erreichten, hier ein zumindest einmal ein kurzer Versuch, die Angelegenheit regeltechnisch zu betrachten.

Was sagt das Regelwerk?

Aus Sicht der Fußballregeln ist an der »One Love«-Kapitänsbinde nichts auszusetzen. Die Regel 4 »Ausrüstung der Spieler« untersagt zwar das Tragen politischer, religiöser und persönlicher Slogans, Botschaften und Bilder, aber Botschaften zur Förderung von Respekt und Integration sind ausdrücklich erlaubt, wenn sie an den dafür vorgesehenen Teilen der Ausrüstung angebracht werden. Hier die entsprechenden Passagen des Regelwerks:

»Die Ausrüstung darf keine politischen, religiösen oder persönlichen Slogans, Botschaften oder Bilder aufweisen. … Bei einem Verstoß gegen diese Bestimmung wird der Spieler und/oder das Team durch den Wettbewerbsorganisator, den nationalen Fußballverband oder die FIFA sanktioniert.«
»Folgendes ist (grundsätzlich) zulässig: … Slogans/Embleme von Initiativen zur Förderung von Fußball, Respekt und Integrität … «
»Zulässige Slogans, Botschaften oder Bilder sollten nur auf der Vorderseite des Trikots und/oder auf der Spielführerbinde angebracht werden.«

Da es sich beim Text der »One Love«-Spielführerbinde eindeutig um einen Slogan zur Förderung von Respekt und Integrität handelt, und nicht um ein politisches Statement, auch wenn die Regierung Katars dies anders sehen will und die FIFA sich dem beugt, ist gegen seine Verwendung aus Regelsicht nichts einzuwenden. Auch die Farbwahl der Binde steht dieser Interpretation nicht im Wege.

Unterstützt wird diese Ansichtsweise durch die UEFA, die im laufenden Wettbewerb der Nations-League keine Einwände gegen das Tragen der »One Love«-Binde hat. WM-Teilnehmer wie Deutschland, England, Holland, Dänemark oder auch Belgien tragen dort die Armbinde.

Ob die »No Discrimination«-Spielführerbinde dem Regelwerk entspricht, da bin ich mir nicht sicher. Autoritär geführte Staaten, wie beispielsweise China, Russland, Nord-Korea aber eben auch Katar, sehen in der Demokratie, dem Recht auf eine freie Meinungsäußerung oder auch den Menschenrechten Werte, die die Stabilität ihrer Regime untergraben. Dementsprechend stellen für diese Länder die Propagierung solcher Werte politische Instrumente dar, die genau dies versuchen sollen. Vor diesem Hintergrund kann man sich folgende Frage stellen: Wenn die FIFA die soeben geschilderte Ansichtsweise des WM-Gastgeberlandes übernimmt, die »One Love«-Armbinde verbietet und die »No-Diskrimination«-Spielführerbinde vorschreibt, ist dann dieser Vorgang nicht als ein politischer Akt zu bewerten, der aus der „No Discrimination“-Spielführerbinde im Grunde eine politische Armbinde macht, welche die folgende Botschaft vermittelt: Wir lassen unser Regime nicht durch westliche Propaganda destabilisieren?

Was sagt das Reglement der FIFA?

Bei ihrer Weigerung die »One Love«-Armbinde zu akzeptieren, beruft sich die FIFA auf ihr „Reglement FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022“ vom 11. August 2022. Dort heißt es:

»Die Mitgliedsverbände, die sich für die Endrunde qualifiziert haben (»teilnehmende Mitgliedsverbände«), verpflichten sich und ihre Spieler, Trainer, Manager, Offiziellen, Medienverantwortlichen, Vertreter, Gäste und andere Personen, die während der Weltmeisterschaft und während des gesamten Aufenthalts im gastgebenden Land im Auftrag eines teilnehmenden Mitgliedsverbands tätig sind (»Delegationsmitglieder«), zur Einhaltung des vorliegenden Reglements, der Spielregeln, der FIFA-Statuten und anderer FIFA-Reglemente, insbesondere des Medien- und Marketingreglements, des Disziplinarreglements, des Anti-Doping-Reglements, des Ethikreglements und des Ausrüstungsreglements, sowie aller anderen Zirkulare, Reglemente, Richtlinien, Weisungen und/oder Beschlüsse der FIFA.«

Auf Deutsch gesagt, müssen die WM-Teilnehmer, abgesehen vom Fußballspielen natürlich, nur eines können: Lesen! Um den Rest sorgt sich die FIFA.

Davon, dass die FIFA auch hinsichtlich der Ausrüstung der teilnehmenden Mannschaften nichts dem Zufall überlässt, zeugt die folgende Passage, in der auch die Spielführerbinde explizit erwähnt wird:

»Jedes teilnehmende Team erhält von der FIFA bei Ankunft im gastgebenden Land besondere Ausrüstung (Trinkflaschen, Getränkekühler, Sanitätstaschen, Spielführerbinden usw.), die im Stadion und während der offiziellen Trainings zu verwenden ist. Andere ähnliche Ausrüstung ist nicht gestattet.«

Nachdem die europäischen Mannschaften, die die Absicht hatten, die »One Love«-Armbinde zu tragen, ihre Absicht bereits im September kundgetan hatten, gab die FIFA am Montag, den 21. November 2022, in einer Mitteilung bekannt, dass die Kapitäne aller 32 Teams eine FIFA-Armbinde mit dem Slogan »No Discrimination - Keine Diskriminierung« während der gesamten Weltmeisterschaft zu tragen haben. Dies wird mit dem Artikel 13.8.1 des FIFA-Ausrüstungsreglement begründet, in dem festgelegt ist:

»Bei FIFA-Endrunden muss der Spielführer jedes Teams die von der FIFA bereitgestellte Spielführerbinde tragen.«

Allerdings hätten die Regularien der FIFA durchaus die Möglichkeit geboten, die »One Love«-Armbinde zuzulassen, ohne dass ihr Reglement kompromittiert worden wäre. Ein weiterer Auszug aus dem Reglement macht dies deutlich:

»Der Verzicht der FIFA auf Ahndung einer Verletzung dieses Reglements (einschließlich eines darin genannten Dokuments) ist nicht als Verzicht auf Ahndung einer weiteren Verletzung der gleichen Bestimmung oder einer Verletzung einer anderen Bestimmung oder als Verzicht auf ein Recht aus diesem Reglement oder eines anderen Dokuments auszulegen.«

Wie würde das Verbot der »One Love«-Kapitänsbinde in der Praxis gehandhabt?

Was wäre zu erwarten, wenn einer der Spielführer die »One Love«-Kapitänsbinde trotz Verbotes tragen würde?

Szenario 1: Der Schiedsrichter bemerkt die »One Love«-Armbinde vor Spielbeginn entweder in der Umkleidekabine oder während des Gangs zum Spielfeld. In diesem Fall würde er den Spieler auffordern, die Binde gegen die offizielle »No Discrimination«-Binde zu tauschen. Würde sich der Spieler weigern, würde der Schiedsrichter ihm die Teilnahme am Spiel untersagen. Wäre auch kein anderer Spieler bereit, die vorgeschriebene Armbinde zu tragen, blieben dem Schiedsrichter, da ohne Spielführer den Regeln zufolge nicht gespielt werden kann, zwei Möglichkeiten: entweder pfeift er das Spiel nicht an oder er lässt den Spielführer mit der »One Love«-Armbinde spielen und macht nach Spielende eine diesbezügliche Meldung im Spielbericht. Über Sanktionen entscheidet dann die FIFA-Disziplinarkommission.

Szenario 2: Der Schiedsrichter bemerkt die »One Love«-Spielführerbinde erst während des laufenden Spiels. Hier gibt es zwei Möglichkeiten:

Szenario 2a: Der Schiedsrichter hat es vor Spielbeginn versäumt auf die Binde zu achten und bemerkt sein Versäumnis erst während des Spiels.

Szenario 2b: Der Spielführer hat die »One Love«-Armbinde vor Spielbeginn unter der offiziellen Binde verborgen und enthüllt sie erst während des Spiels.

In beiden Fällen würde der Schiedsrichter den Kapitän auffordern, die »One Love«-Binde gegen die »No Discrimination«-Armbinde zu tauschen. Während der Spieler im ersten Fall ungestraft davonkommt, wäre im zweiten Fall eine gelbe Karte wegen Täuschung des Schiedsrichters (unsportliches Verhalten) fällig. Würde der Spieler der Aufforderung nicht nachkommen, hat der Schiedsrichter wiederum zwei Möglichkeiten: entweder er bricht das Spiel ab oder aber er lässt das Spiel weiterlaufen und macht eine entsprechende Meldung im Spielbericht. Über entsprechende Sanktionen entscheidet dann wiederum der Wettbewerbsveranstalter, also in diesem Fall die FIFA.

Würde ein Schiedsrichter ein Spiel wegen der »One Love«-Kapitänsbinde nicht anpfeifen oder gar abbrechen? Unter normalen Umständen natürlich nicht. Würde die FIFA bei der WM in Katar soweit gehen, die Schiedsrichter anzuweisen, dies zu tun? Möglichweise auf Druck Katars? Wer weiß?

Auch darüber wie die Sanktionen der FIFA aussehen könnten, für den Fall das ein Spieler sich weigert, die Armbinden zu tauschen, lässt sich nur spekulieren. Die von der FIFA aufgebaute Drohkulisse, wie immer sie konkret auch ausgesehen haben mag, hat jedenfalls dazu geführt, dass sich sämtliche Verbände, die mit dem Gedanken gespielt haben, mit der »One Love«-Kapitänsbinde aufzulaufen, sich vor Schreck sprichwörtlich in die Hose gemacht haben (was im Übrigen die FIFA-Regularien nicht ausdrücklich verbieten).

Wie immer die angedrohten Sanktionen auch ausgesehen haben mögen, eines scheint mir sicher: eine gelbe Karte für das Tragen der »One Love«-Armbinde, wie sie Meldungen zufolge von der FIFA ins Spiel gebracht wird, dürfte es den Spielregeln zufolge nicht geben. Mit einer solchen Sanktion würde die FIFA meiner Meinung nach gegen die Fußballregeln und gegen ihr eigenes Reglement verstoßen, wo es heißt:

»Alle Spiele sind gemäß den vom International Football Association Board (IFAB) beschlossenen, zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft geltenden Spielregeln auszutragen.«

Fazit

Gegen das Tragen der »One Love«-Kapitänsbinde ist aus Sicht der Fußballregeln nichts einzuwenden. Für die »No Discrimination«-Spielführerbinde ist die Sache nicht ganz so eindeutig. Mittels ihres Reglements hat sich die FIFA jedoch ein Instrument geschaffen, das ihr die Durchsetzung der »No Discrimination«-Spielführerbinde gestattet.

Die Schiedsrichter werden von dem Streit vor keine großen Aufgaben gestellt, da das Regelwerk in Bezug auf ihre Vorgehensweise eine klare Sprache spricht. Die Entscheidungen »Spiel nicht anpfeifen« bzw. »Spielabbruch« für den Fall dass ein Spielführer sich weigern sollte, die »One Love«-Armbinde abzustreifen, wird die FIFA im Vorfeld geregelt haben und damit die Verantwortung für die Entscheidung der Schiedsrichter übernehmen. Auf die Sanktionen im FIFA-Kontrollausschuss haben die Schiedsrichter keinen Einfluss.

Letztendlich haben der DFB und alle anderen Fußballverbände das Reglement (oder besser gesagt: den Knebelvertrag) der FIFA in der vorliegenden Form akzeptiert. Betrachtet man darüber hinaus das Gestrüpp an Verträgen, die Verbände und Spieler mit Sponsoren, Medien, Vereinen, Spielerberatern und, und, und … geschlossen haben, wundert es nicht, wenn trotz des Todes tausender Bauarbeiter und eklatanter Menschenrechtsverletzungen, an Protest nicht mehr herauskommt, als ein Stückchen bunter Stoff (selbst auf dieses kleine »Protestchen« wird noch verzichtet) und vielleicht in den folgenden Wochen noch einige Aktionen, die nicht viel Schaden anrichten.

Aber auch die FIFA scheint sich gegenüber einem WM-Gastgeber, der immerhin 200 Milliarden Euro in die WM investiert hat, moralisch verpflichtet zu fühlen, auf ihre vermeintlichen Prinzipien zu verzichten. Ein Einsetzen für Werte dort, wo diese Werte überwiegend akzeptiert werden und eben nicht dort, wo diese Werte mit Füßen getreten werden, ist kaum mehr als eine recht billige Form von Marketing.

Es scheint also letztendlich nur zwei Instanzen zu geben, die bei der Weltmeisterschaft frei sind, ihre Sicht der Dinge frei auszudrücken und demensprechend zu handeln: die Regierung Katars und der Zuschauer. Die Regierung Katars zumindest nutzt diese Freiheit hemmungslos!

Vielleicht sollte man sich über tote Bauarbeiter, Rechte für Mädchen und Frauen sowie Gefängnissaufenthalte von Mitgliedern der LGBTQ-Gemeinschaft keine großen Gedanken machen, die Spiele genießen und der Maxime des FIFA-Präsidenten Gianni Infantino folgen: Die Europäer durften 3000 Jahre lang die Menschenrechte mit Füßen treten, jetzt endlich sind einmal die anderen an der Reihe. Gleiches Recht für alle! NO DISCRIMINATION!