Regelkundlich betrachtet:
Jens Lehmanns Pinkelpause
Beim Spiel der Champions-League des VfB Stuttgart gegen Unirea Urziceni verließ Ex-Nationalhüter Jens Lehmann während des laufenden Spiels eilends das Spielfeld, kletterte über die Werbebande, hockte sich nieder und düngte den Rasen, wie die Bildzeitung vermutete. Indirekt bestätigt wurde diese »Unterstellung« von VfB-Manager Horst Held: »Manchmal hat man eben keine andere Möglichkeit auszutreten.«
Die Fußballregeln geben auf die Frage, wie sich ein(e) Akteur(in) regelgerecht zu verhalten hat, wenn ihn/sie ein menschliches Bedürfnis übermannt bzw. überfraut keine Antwort.
Auf dieser Website dagegen wurde das »Problem« bereits vor Jahren angesprochen, und zwar unter Story 9: Das Sportgericht muss entscheiden: Pinkelpause oder Torerfolg?
Was meinen nun die »Regelexperten« zu Lehmanns Streich? Und hatte der Torhüter wirklich keine Alternative, wie von Horst Held angenommen wurde?
Zunächst ist festzustellen, dass nach der Regel 12 das absichtliche Verlassen des Spielfeldes ohne Erlaubnis des Schiedsrichters verboten ist und mit einer Gelben Karte geahndet werden muss. In älteren Regelheften findet man als Ergänzung den Hinweis »ausgenommen bei Unglücksfällen«. Nun, der Unglücksfall war bei Lehmann zum Glück noch nicht eingetreten ...
Wäre das Spiel wegen des unerlaubten Verlassens unterbrochen worden, hätte es mit einem indirekten Freistoß (dort wo sich der Ball beim Pfiff des Schiedsrichters befand) fortgesetzt werden müssen.
Da das Spielgeschehen sich zum Zeitpunkt des Verlassens des Spielfeldes in der gegnerischen Hälfte abspielte, wäre es gemäß der Regel 6 die Pflicht des Schiedsrichterassistenten gewesen, dieses Vergehen außerhalb des Blickfeldes des Schiedsrichters anzuzeigen. Hätte der Schiedsrichter-Assistent dieses versucht und der Schiedsrichter es nicht bemerkt, hätte der andere Assistent das Zeichen übernehmen müssen. Leider haben die Schiedsrichter-Assistenten versagt.
Scheinbar risikoloser für sein Team wäre es gewesen, hätte Jens Lehmann kurzum während des laufenden Spieles das TW-Trikot mit einem Mannschaftskameraden getauscht, um dann auf weniger spektakuläre Weise eine Toilette aufzusuchen. Die Regel 3 sieht vor, dass jeder Feldspieler seinen Platz mit dem Torwart tauschen darf, allerdings – und hier liegt der Hase im Pfeffer – vorausgesetzt, der Schiedsrichter wird darüber informiert und der Tausch wird während einer Spielunterbrechung vorgenommen. Wird gegen diese Bestimmung verstoßen, soll der Schiedsrichter die Partie vorerst weiterlaufen lassen. In der nächsten Spielunterbrechung hätte es dann allerdings eine böse Überraschung gegeben: Die Regeln sehen für beide »Torleute« Verwarnungen vor, und Jens Lehmann hätte nach seiner Rückkehr die mathematischen Gesetze der Fußballregeln kennengelernt: GELB für den ungenehmigten Torwartwechsel plus GELB für das unkorrekte Verlassen des Spielfeldes gibt GELB/ROT.
Welche »legalen Möglichkeiten« hätte der in Nöten befindliche Torwart Lehmann nun eigentlich gehabt?
Er oder ein Mannschaftskamerad, normalerweise der Mannschaftsführer, hätten den Schiri um Hilfe bitten können. Bis zur Kontaktaufnahme mit dem Referee wäre allerdings knapp bemessene Zeit verstrichen. Und der Schiedsrichter hätte mit Sicherheit die nächste Spielunterbrechung abgewartet, um sich des Problems anzunehmen (Regel 5). Das hätte gedauert, gedauert, gedauert ...
Wäre die Zeit bis zur Spielunterbrechung ohne Malheur überstanden, gäbe es mehrere Möglichkeiten, das Spiel in regelkundlich geordneten Bahnen fortzusetzen:
1. Der Schiedsrichter gestattet dem Torwart den Weg zur Kabine. Da die Regel 3 vorsieht, dass einer der Spieler ein Torwart zu sein hat, muss der Spielleiter die Rückkehr des »erleichterten« Torhüters abwarten. In dieser Kunstpause wäre für einige Lacher gesorgt, und das Publikum sowie die Akteure erlitten keinen Schaden, da nach der Regel 7 die so verloren gegangene Zeit in der betroffenen Spielhälfte nachgespielt werden muss.
2. Die Entfernung zum »stillen Örtchen« kann aber so groß sein, dass die Dauer der Spielunterbrechung zur Zumutung würde, gegebenenfalls würde sogar der Ablauf des Fernsehprogramms durcheinander gebracht. In diesem Fall wird der Schiedsrichter das Spiel nicht so lange unterbrechen wollen und gestattet dem Torwart den Gang zur Kabine nicht. Der Torhüter müsste in diesem Fall ausgewechselt werden und zwar entweder zeitweilig gegen einen Feldspieler oder gegen den Ersatztorhüter. Über das »Wie« entscheidet die betroffene Mannschaft beziehungsweise ihr Trainer, nicht der Schiedsrichter.
a. Die schnellste Spielfortsetzung wird erreicht, wenn der Wechsel innerhalb der Mannschaft vonstatten ginge. Nachteil: Die Mannschaft müsste das Spiel zunächst mit 10 Spielern fortsetzen. Der Torwart darf dann nach seiner Rückkehr das Spielfeld von der Seitenlinie aus mit Zustimmung des Spielleiters betreten. Bis zur nächsten Spielunterbrechung wäre er dann zunächst als Feldspieler aktiv (Regel 5). In der Spielunterbrechung wäre der Torwartwechsel (wie in der Regel 3 beschrieben) dann nur noch eine Formsache. Kommt der Torhüter während einer Spielunterbrechung zurück, darf er übrigens mit Zustimmung des Unparteiischen das Spielfeld auch über die Torlinie betreten.
Kehrt der Torwart nach seiner Rückkehr direkt ohne Zustimmung des Schiedsrichters auf das Spielfeld zurück – und dies wäre Jens Lehmann durchaus zuzutrauen – so sehen die Regeln dafür eine Gelbe Karte und einen indirekten Freistoß (wo Ball beim Pfiff des Schiedsrichter) vor. Allerdings könnte der Referee das Spiel unter Umständen auch unter Beachtung der Vorteilsbestimmung zunächst weiterlaufen lassen und dem Torwart die Gelbe Karte in der nächsten Spielunterbrechung zeigen.
b. Natürlich ist es auch möglich, den Torhüter gegen den Ersatztorwart von der Reservebank auszutauschen (Regel 3).
Für Jens Lehmann wäre in diesem Fall das Spiel beendet gewesen (was sicherlich nicht im Interesse der Stuttgarter gewesen wäre). Allerdings gibt es noch eine Möglichkeit, den Schiedsrichter und sein Regelheft auszutricksen: Eine Auswechslung ist nämlich erst dann vollzogen, wenn der Ersatzspieler – in diesem Fall der Ersatztorwart – das Spielfeld betreten hat. Langsamkeit wäre nunmehr gefragt: Verbummelt der Ersatzkeeper die Zeit bis zur Rückkehr des Torwarts mit dem Anziehen der Torwartkleidung beziehungsweise der Fußballschuhe, könnte der »geplante« Wechsel storniert werden.
Fazit: Jens Lehmann sei Dank, dass er ohne das Regelheft zu strapazieren, eine einfachere Lösung seines Problems gefunden hat.