Nachgedacht

Schiedsrichterleistungen der Weltmeisterschaft 2002

Deutschland: Vizeweltmeister – Schiedsrichter: Weltmeister (?)

In den ersten beiden Wochen der WM in Japan und Südkorea befassten sich an manchen Tagen mehr Schlagzeilen mit den Leistungen der Schiedsrichter als mit dem Können der beteiligten Mannschaften.

Mit »sehr gut« beurteilte Edgardo Codesal die Referees. Er ist immerhin FIFA-Kommissonsmitglied ...

Ungewollt lobte auch Bernd Heynemann, WM-Schiedsrichter 1998 in Frankreich, seine Kollegen: »So kann es nicht weitergehen!«, beschwerte er sich, räumte dann aber gleichzeitig ein, dass 96 bis 97% der Entscheidungen korrekt gewesen seien. Ging man bisher davon aus, dass jedem Spielleiter pro Match »eine Handvoll« Fehler zugestanden werden muss, so attestierte er damit den »Schwarzkitteln« (pardon: mittlerweile »Buntkitteln«) sogar ausgezeichnete Leistungen.

Manfred Amerell, Mitglied des DFB-Schiedsrichterausschusses, sprach in gewohnt derber bayrischer Weise von »grottenfalschen« Entscheidungen. Dazu muss man wissen, dass eine Beleidigung bei uns, in Bayern eher ein freundschaftlich gemeinter Ratschlag ist.

Ein dickes Lob heimsten die Schiedsrichter von Franz Beckenbauer ein: Er sei »besorgt« wegen der Spielleitungen. Bei dieser Verlautbarung gilt es zu bedenken, dass Kaiser Franz den Ratschlag gab, die Spieler unserer Nationalmannschaft in einen Sack zu stecken und mit dem Knüppel drauf zu hauen. Für Mathematiker ergibt sich daraus eine Gleichung mit einer Unbekannten: Es verhält sich »Sack/Knüppel« zu »besorgt« wie »Vizeweltmeister« zu »x (Leistung der Schiedsrichter)«. Die Lösung: Beckerbauer meint, die Leistungen der Spielleiter seien »weltmeisterlich« gewesen.

Walter Eschweiler, ein früherer deutscher Vorzeigeschiedsrichter, »sah viel Schatten«. Auch dieser Aussage kann man Positives abgewinnen: Das Licht der Schiedsrichter muss sehr hell gewesen sein, wenn es Schatten schlug.

Die italienischen Zeitungen unterstellten dem Spielleiter Byron Moreno aus Ecuador nach ihrer Niederlage gegen Südkorea »Betrug« und nannten ihn einen »Killer-Schiedsrichter«. Der Rundfunksender RAI kündigte sogar eine Schadensersatzklage gegen Moreno an. »Viel Feind, viel Ehr’.« Richtig ist, dass der Ecuadorianer die vielen italienischen Torchancen ungenutzt ließ ...

Die Meinung vom FIFA-Präsidenten Sepp Blatter hing von der Windrichtung ab: Einerseits bekundete er volle Zufriedenheit mit den Spielleitungen, dann wieder solidarisierte er sich mit unterlegenen Teams und ärgerte sich über die ungenügenden Leistungen der Schiris. Des Volkes Stimme traf er, als er die Schiedsrichterassistenten als »Desaster« bezeichnete. Mich stört an dieser Aussage nur die Verallgemeinerung.

Volker Roth, DFB-Schiedsrichterboss und Mitglied des FIFA-Schiedsrichtergremiums, wollte sich erst nach der WM über die Schiedsrichterleistungen äußern und tat klug daran: Vorzügliche Spielleitungen in der zweiten Hälfte des Turniers ließen manche Ungereimtheit davor vergessen.


Wie gut oder wie schlecht waren die Schiedsrichter bei der WM denn nun wirklich?

Für die Lehrarbeit in unserem Kreis habe ich nahezu alle Spiele der WM aufgezeichnet und die Schiedsrichterentscheidungen im nachhinein genau überprüft.

Insgesamt konnte ich feststellen, dass die Begegnungen Dank der konsequenten Spielleitungen weitgehend in einem sportlichen Rahmen verliefen. Damit haben die Schiedsrichter die wichtigste Vorgabe der FIFA erfüllt, und es gebührt ihnen deshalb Lob und Dank.


Vier Kardinalfehler der Referees machte ich aus:

1. Besonders zu Beginn des Turniers fiel die unterschiedliche Bewertung von Zweikämpfen mit den sich daraus ergebenden persönlichen Strafen auf. Alles richtig machte der Schiedsrichter Nieto im Spiel Deutschland gegen Kamerun und lag doch voll daneben. Ihm mangelnde wie einigen seiner Kollegen an der richtigen Einstellung zum Spiel. Oder: Im Spiel Brasilien gegen England sah Ronaldinho zu Recht die Rote Karte, weil er dem Gegner absichtlich gegen das Schienbein trat. Das Problem: In der Vorrunde gab es für ähnlich gelagerte Fouls nur Gelb.

2. Bei der Beurteilung von vorgetäuschten Foulspielen im Strafraum, den sogenannten »Schwalben«, bewiesen die Schiedsrichter nur unzureichende ornithologische Kenntnisse. Nicht immer vermochten sie zwischen Schwalben und friedfertigen Tauben zu unterscheiden. Etliche Strafstöße waren unberechtigt, andere erforderliche Elfmeterpfiffe blieben aus.

3. Obwohl die Spielleiter allesamt konditionell sehr stark waren, fehlte ihnen trotzdem des öfteren der Durchblick: Es gab etliche Spielunterbrechungen »auf Verdacht«. Den Spaniern wurde so ein Tor »geraubt« (ihre Mannschaft schied deshalb aus) und unschuldige Akteure sahen Gelb. Auch der vielgelobte Collina war in dieser Hinsicht keineswegs fehlerfrei, während der von den Italienern arg gescholtene Byron Moreno fast immer richtig urteilte.

4. Letztlich wurden die Schiedsrichter von einer neuen Kreation der Spieler gegen die Fußballregeln überrascht: Beim Sprung nach dem Ball wurde ein Arm ausgefahren und mit dem Ellbogen das Gesicht des Gegners poliert. Absichtlich begangen müssen solche Regelverstöße mit der roten Karte geahndet werden müssen. Doch die Übeltäter hatten Glück: Die Spielleiter trauten ihnen solche Bösartigkeiten (noch) nicht zu.

Die Punkte 2-4 weisen den Akteuren eine gehörige Mitschuld an den nicht immer korrekten Entscheidungen der Referees zu. In einer Kolumne im Ostfriesischen Kurier habe ich dazu ausgeführt, dass die Spieler den Schiedsrichtern – wie bei keiner WM zuvor – ihre ohnehin nicht leichte Aufgabe erschwerten:

So setzen die Akteure die Gesetze der Physik außer Kraft: Schon bei einem leichten Zupfen am Trikot wurden aus ihren stabilen eine labile Lage. Die Stürze sollten die Referees dazu verleiten, neben den fälligen Freistößen gelbe Karten zu zücken, denn ein verwarnter Spieler ist nur ein halber Spieler: Er muss sich bei jedem Zweikampf in Acht nehmen, weil Gelb/Rot droht.

Noch gefährlicher war es, ein ausgestrecktes Bein nicht schnell genug wieder einzuziehen: Der Gegner nutzte die Chance, fädelte ein (oder auch nicht) und stürzte spektakulär. Was mich besonders störte, war das »vorsorgliche« Halten und Klammern. Es hat so überhand genommen, dass es von den Schiedsrichtern nur noch in besonders krassen Fällen geahndet wurde.

In zeitlicher Distanz (und damit emotionsloser) betrachtet, kann man feststellen, dass die Schiedsrichter alles in allem keineswegs so schwach waren, wie sie in der Öffentlichkeit dargestellt wurden. Eklatante Mängel gab’s jedoch bei einigen Schiedsrichterassistenten !

Bei der Suche nach dem Schuldigen für die Schwächen der Schiedsrichterteams nimmt Bernd Heynemann kein Blatt vor den Mund: »Es war Herr Blatter, der stets großen Wert darauf gelegt hat, dass die Schiedsrichter aus allen Winkeln seiner großen Fußball-Weltfamilie kommen«.

Der FIFA-Präsident, der mit recht »unorthodoxen« Mitteln gerade seine Wiederwahl betrieben hatte und es davor allen Recht machen wollte, versuchte sich aus der Verantwortung zu stehlen. Nach den Pannen plädierte er nun dafür, »nur die Besten zu holen, auch wenn mehrere aus dem selben Land sind«. Und: Künftig sollen nur noch eingespielte Schiedsrichterteams berücksichtigt werden.